… pflegt man doch meist sehr konservativ zu sein in Dingen, über die man nicht genügend nachgedacht.
—Camilla Jellinek
Dieser Satz ist gleichsam das Lebensmotto Camilla Jellineks, die fast fünfzig Jahre in Heidelberg lebte und wirkte.
Geboren wurde Camilla Wertheim 1860 in Wien, ihr Vater war Professor für Dermatologie und stammte aus einer jüdischen Familie, die Mutter war eine „gestandene Katholikin“. Camilla wurde katholisch getauft: „Ich hatte das große Glück in meinem Elternhaus das zu finden, was öffentliche Schule und Universität damals den Mädchen noch verweigerten“, erinnerte sie sich.
Von ihrer großen Belesenheit zeugt der geistreiche Stil ihrer späteren Aufsätze. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sie in einem „Lesekränzchen“ ihren Mann, den Privatdozenten Georg Jellinek kennenlernte. Aus Rücksicht auf Georg Jellineks Vater verließ Camilla Wertheim vor der Heirat die katholische Kirche, ohne jedoch der jüdischen Kultusgemeinde beizutreten.
Trotz des wachsenden Antisemitismus, der die akademische Karriere Georg Jellineks blockierte, waren die frühen Ehejahre „Jahre des Glücks – wir hatten uns und unsere Kinder“: Camilla Jellinek brachte den gemeinsamen Sohn Paul 1884 zur Welt, Walter 1885 und die Tochter Dora 1888. Im März 1889 endete diese glückliche Zeit: Der älteste Sohn Paul starb an Diphtherie, im selben Jahr reichte Georg Jellinek – zermürbt von „antisemitisch-klerikalen Intrigen“ – seinen Abschied vom österreichischen Staatsdienst ein. Nach einem kurzen Aufenthalt an der Basler Universität wurde Georg Jellinek 1890 auf den Lehrstuhl für Staatsrecht nach Heidelberg berufen – für einen ungetauften Juden „das Merkwürdigste, was in den akademischen Kreisen in letzter Zeit sich vollzogen hat“, wie er selbst meinte.
Zunächst wohnte die Familie am Seegarten, später in der Bismarckstraße, bis man sich ein eigenes Haus in der Bunsenstraße leisten konnte, denn die Kinderschar wuchs: Camilla brachte 1891 Tochter Paula zur Welt, 1893 Sohn Fritz, der schwerbehindert im Oktober 1896 starb. Ein halbes Jahr vor diesem Schicksalsschlag hatte sie ihrem sechsten Kind Otto das Leben geschenkt. Für ihre Kinder verfasste sie später „Georg Jellinek. Ein Lebensbild, entworfen von seiner Witwe Camilla Jellinek“, wohl die liebenswerteste Biografie aus der Feder einer Professorenwitwe.
Eine Neuerung in Heidelberg, die sie und ihr Mann begrüßten, war das Frauenstudium. Die Zulassung zur Immatrikulation an den beiden badischen Universitäten verdankten die Studentinnen dem Verein „Frauenbildung – Frauenstudium“, dessen Vorsitzende in Heidelberg Marianne Weber war. Sie organisierte Vortragszyklen meist mit Rednern aus dem Kollegenkreis ihres Mannes Max Weber; aber sie lud auch prominente Frauenrechtlerinnen ein, wie Marie Stritt, die über das „Das Bürgerliche Gesetzbuch und die Frauenfrage“ referierte.
Marie Stritt gehörte zum eher radikalen Flügel der deutschen Frauenbewegung; 1896 hatte sie in Dresden ein Rechtsschutzzentrum eingerichtet, „in dem Frauen und Mädchen aller Stände Gelegenheit geboten wird, sich in Rechtsfällen unentgeltlich Rat zu holen.“ Dieses Konzept einer ehrenamtlich geleiteten juristischen Beratungsstelle war außerordentlich erfolgreich und fand in vielen Städten Nachahmerinnen – auch in Heidelberg. Im „Merkbuch der Frauenbewegung“ findet sich der Hinweis:
Heidelberg: Rechtsschutzstelle für Frauen und Mädchen e.V. Anlage 43 gegr. 1900. Vors: Frau Jellinek Bunsenstr. 15 Sprechst: Dienstag, Donnerstag 6-8 Uhr.
Über dreißig Jahre leitete Camilla Jellinek in einem Zimmer der Höheren Mädchenschule die Rechtsschutzstelle und bildete sich dabei zur juristischen Fachfrau – zum „Doktor beider Rechte“, der ihr 1930 honoris causa verliehen wurde.
Zwar konnten auch Männer Mitglieder im Rechtsschutzverein werden, die Beratung aber oblag ausschließlich Frauen: „Der Verein hat durch seine eigene Erfahrung es bereits bestätigt gefunden, dass in vielen Fällen Frauen leichter zu Frauen sprechen über das, was sie bedrückt“, schrieb Camilla Jellinek. Zur Sprache kamen Lohn- und Mietstreitigkeiten, Schuldforderungen, Alimente, (Ehe)-Verträge etc. Die Heidelberger Rechtsschutzstelle hatte bald einen so guten Ruf, dass ein Brief oder Stempel genügte, um den Mandantinnen zu ihrem Recht zu verhelfen.
Nicht alle Unternehmungen Camilla Jellineks waren erfolgreich. So scheiterte sie im Kampf für die Abschaffung des § 218: In einer fulminanten Rede vor dem Bund deutscher Frauenvereine, die mit der Beschreibung ihres eigenen Sinneswandels (siehe „Lebensmotto“) begann und in dem nachmals berühmten Satz gipfelte: „Darüber besteht für mich kein Zweifel: wenn Männer die Kinder zu gebären hätten – ein männlicher § 218 wäre nie geschaffen worden,“ forderte sie „im Namen der freien Persönlichkeit der Frau die Abschaffung des § 218“. Die Niederlage, die die konfessionellen Frauenvereine Camilla Jellinek bereiteten, wirkt bis heute nach.
Camilla Jellineks Bibliografie ist lang: Viele ihrer geistreichen Texte veröffentlichte sie in der Zeitschrift „Die Frauenbewegung“ der „radikalen“ Minna Cauer.
Der Tod ihres Mannes im Jahr 1911 bedeutete einen großen Einschnitt in Camilla Jellineks Leben. Ihr fehlte fortan der vertraute (Gesprächs)partner; da die Witwenrente eher dürftig war, musste sie später das Haus in der Bunsenstraße verkaufen und bezog eine Wohnung im Unteren Faulen Pelz 2.
Wie viele deutsche Frauenrechtlerinnen begrüßte leider auch Camilla Jellinek den Ersten Weltkrieg: Gemeinsam mit Marianne Weber übernahm sie die Heidelberger Sektion des Nationalen Frauendienstes. Sie sorgte für Lebensmittel, Arbeitsnachweise, Lazarettdienste, hielt Frauensprechstunden auf dem Land ab – und machte sich Gedanken über neue Berufe für Kriegerwitwen. Eine dieser Witwen war ihre Tochter Dora Busch, deren Mann schon 1915 gefallen war, Dora bereitete sich aufs Lehramt vor und zog allein ihre beiden Töchter groß.
„Die Frau hat den Stimmzettel erhalten – kann der den Schlüssel bedeuten zu all den Schätzen, die sie für das Volkswohl zu heben gedenkt?“ Hoffnungsvoll, wenn auch nicht unkritisch, begrüßte die 60-jährige Camilla Jellinek die Republik. In einem schmalen Bändchen „Die Frau im neuen Deutschland“ beschrieb sie hellsichtig die Probleme (partei)-politisch engagierter Frauen; zugleich ist das Buch aber auch ihr Vermächtnis an eine neue Generation.
Sie selbst arbeitete in vielen kommunalen Ausschüssen mit, kandidierte für den Gemeinderat; in alten wie in neuen Frauenvereinen war ihr juristischer Rat gefragt – die GEDOK ernannte sie zum Ehrenmitglied. 1926 wurde sie 1. Vorsitzenden des „Badischen Verbandes für Frauenbestrebungen“. Die Krönung dieses aktiven Frauenlebens war die Verleihung des Ehrendoktors der Juristischen Fakultät an ihrem 70. Geburtstag. Die Laudatio hielt Gustav Radbruch, Marianne Weber schrieb den Geburtstagsartikel, der am 24. September 1930 im Heidelberger Tageblatt erschien.
Während schon 1930 die NSDAP als stärkste Partei aus den Heidelberger Gemeinderatswahlen hervorgegangen war, bedeutete erst das Jahr 1933 das jähe Ende der politischen Arbeit Camilla Jellineks: Wegen ihrer „nichtarischen“ Abstammung wurde sie aus allen (Ehren-) Ämtern gedrängt, der Badische Verband für Frauenbestrebungen wurde aufgelöst, den Vorsitz der Rechtsschutzstelle musste sie gezwungenermaßen niederlegen; aber auch alle Hoffnungen auf eine gleichberechtigte Zukunft, die sie in vielen Beiträgen propagiert hatte, waren vernichtet: In wenigen Monaten verloren die deutschen Frauen alle Rechte, für die sie Jahrzehnte lang gekämpft hatten. Camilla Jellineks Töchter wurden aus dem Schuldienst entlassen: Dora als Lehrerin, Paula als Schulärztin.
1934 zog Camilla Jellinek noch einmal um in ein kleines Zimmer in der Moltkestraße 10. Hier starb sie am 5. Oktober 1940. Nicht mehr erleben musste sie die Verschleppung der Heidelberger jüdischen Bevölkerung nach Gurs zwei Wochen nach ihrem Tod, den qualvollen Tod ihres Sohnes Otto, der an den Folgen der Gestapofolter 1943 starb und die Deportation ihrer Tochter Dora ins Lager Theresienstadt 1944, aus dem sie erst 1945 nach Heidelberg zurückkehrte.
Der Text basiert auf Klaus Kempter: „Die Jellineks“, Düsseldorf 1998.
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